Der Spiegel

Oder: Die eigene Wahrheit

Immer wieder steht man staunend vor dem Phänomen der unterschiedlichen Wahrnehmung und der verschiedenen Interpretation ein- und derselben Geschehnisse, derer man gemeinsamer Zeuge zu sein das Glück hatte.

Nehmen wir als Beispiel eine Zirkusparade in einer Stadt.

Lustige Clowns, anmutige Tänzerinnen, kraftvolle Akrobaten, mutige Dompteure und geschickte Jongleure flanieren die Hauptstraße hinab, begleitet von kräftiger Blasmusik, Trommeln und Tamburin.
Indische Elefanten, afrikanische Löwen und weiße Lipizzaner- Pferde untermalen die exotische Stimmung, und der Zirkusdirektor, allen voran, in rotem Frack und gezwirbeltem Schnurrbart, lacht dem Publikum entgegen und winkt mit dem buntverzierten Paradestab.

Dies ist eine Szene, die man gewöhnlich nur in einer einzigen Weise erleben kann, nämlich in kindlicher Begeisterung und uneingeschränktem Jubel.

Falsch.

Der menschliche Geist ist nicht so. Er ist anders.

Er erlebt eine solche Szene nicht zwangsläufig in Begeisterung. Er erlebt diese Szene in Freude, in Argwohn, in Spaß, in Neid, in Glück, in Leid, in Zweifel, in Missgunst, in Kritik und in Gleichmut. Man flaniert staunend vor dem Publikum einher, winkt mit dem glitzernden Paradestab und rätselt darüber nach, warum nicht alle restlos begeistert sind.

Manche halten sich sogar wütend die Ohren zu. Der menschliche Geist ist ein Rätsel. Das Erleben ist unterschiedlich. Die Betrachtungsweise unvergleichlich. Und die Erinnerungen sind so unverwechselbar, wie Fingerabdrücke auf dem Polizeiprotokoll.

Die Lösung des Rätsels lautet: Der menschliche Geist erlebt nicht das Geschehnis in neutraler Form, sondern er erlebt sich selbst. Er betrachtet das Geschehnis durch seine eigene Brille, und diese Brille gibt ihm die Vorstellung seiner eigenen Welt wieder.

Diese Brille ist seine eigene Weltanschauung.

Es sind seine Erfahrungen, seine Erinnerungen und Verhaltensmuster. Ein Fleckenteppich dessen, was der Mensch im Laufe seines Lebens an Urteilen über sein Leben gesammelt hat.

Wenn der Mensch etwas erlebt, dann blickt er sich selbst an.

Er urteilt das Erlebnis anhand dessen, wie er die Welt sieht, danach rückt er das Erlebnis in das eigene Weltbild ein, bis es ihm passt, und erst dann lässt er die genau passenden Emotionen zu, die für eine solche Situation vorgefertigt wurden.

Das Ergebnis ist dann eine breitgefächerte Palette von Emotionen, die unterschiedlicher nicht sein können. Der Mensch erlebt seine Welt nicht neutral.

Immer erlebt er sie durch den Filter seiner eigenen Emotionen, als würde er zuerst in den Spiegel schauen, bevor er dazu eine Meinung hat. Das ist wichtig, denn die Frage ist immer: Wenn ich das soundso sehe, wer bin ich dann?
Wenn Du Dir eine Sache betrachtest, dann kannst Du Dich selbst darin erkennen.

Aha, so bin ich also.

Auch wenn Dich ein anderer ärgert: Die Weise, wie Du darauf reagierst, hat nichts mit dem zu tun, was er Dir angetan hat, sondern, wer Du bist, dass Du so darauf reagierst. Welchen Bezug hat diese Sache zu mir selber?

Wenn ich einem sage: Ich vergebe Dir. Dann vergibst Du nicht ihm, sondern Du nimmst Deine Person aus der Angelegenheit heraus und betrachtest sie wieder so, dass Du keine Emotionen mehr dazu benötigst. Es ist immer die eigene Person, die sich in diese Sache verwickelt, nie die andere.

Wie ein Spiegel.

Im Leid gilt die Frage: Wer bin ich, dass ich unter dieser Angelegenheit leide?
In welchen Spiegel schaue ich? Da ist nicht die Frage: Worunter leide ich?
Sondern immer die Frage: Was ist diese Sache in Bezug zu mir?

Wer bin ich?

Wie kann ich meine Emotion vor dieser Angelegenheit in Sicherheit bringen? Die Perspektive des Zusehens, von wo aus betrachte ich es, hat da schon eine ganz gewaltige Bedeutung.